Transformation der Arbeit: Wir wollen Spuren hinterlassen
Sabine, dein Thema ist die Transformation von Arbeit. Wie hat sich die Art, wie Menschen arbeiten, in den letzten Jahren verändert?
Es gibt zwei Faktoren: Das eine ist das Thema Zeit und das andere ist das Thema Datenvolumen. Diese beiden Elemente der Digitalisierung führen dazu, dass Menschen in sehr viel kürzerer Zeit sehr viel mehr Leistung erbringen. „Zwangsläufige Arbeitsverdichtung“ ist ein wichtiges Stichwort. Die zentrale Fragestellung war immer: Wie schaffen wir es, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Informationen so zu verarbeiten, damit dabei gute unternehmerische Handlungen und Entscheidungen herauskommen? Die Frage der Arbeitsorganisation wird vor diesem Hintergrund – den Chancen und Risiken der Digitalisierung – neu zu verhandeln sein: Wie gelingt es, auf der einen Seite Freiräume zu schaffen und auf der anderen Seite der rasanten Verdichtung entgegenzuwirken – und die Menschen in einer Balance zu behalten? Gleichzeitig beobachten wir, dass Menschen sowohl vom Volumen als auch von der Zeit her weniger arbeiten wollen. Das stellt Arbeitgeber vor große Herausforderungen in puncto räumlicher und zeitlicher Flexibilität.
Welche Chancen eröffnet die Transformation von Arbeit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?
Wenn wir uns überlegen, wie sich die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten entwickelt hat, dann beobachten wir, dass Arbeit immer weniger ausschließlich einen Erwerbshintergrund hat. Arbeiten, um zu leben oder leben, um zu arbeiten? Ich glaube, der Trend lautet: Arbeiten, um zu leben. Das bedeutet auch, wir Menschen fordern Freiräume und von unserem Arbeitgeber ganz andere Formen von Vertragsverhältnissen. Das meine ich gar nicht juristisch gesehen, sondern wie wir gemeinsam die Organisation und die Unternehmensziele gestalten. Menschen fordern heute viel mehr Mitgestaltung, ganz egal, ob im Wissensbereich, in den Büros oder in den Werkstätten. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, dass Menschen Resonanz erfahren, mit dem, was sie tun, Fußspuren hinterlassen wollen. Und zwar unabhängig davon, ob sie in einem Technologieunternehmen wie Siemens an der Drehmaschine stehen, in einem Innovations-Lab von Bosch Software codieren oder in einer Klinik Menschen pflegen.
Das fordert eine andere, moderne und zeitgemäße Form von Führung. Menschen wollen mit ihren Ideen gehört werden. Das schafft Verbundenheit mit der eigenen Aufgabe und der Organisation, für die man tätig ist, aber auch Freiräume, Freizügigkeit, Beweglichkeit und Flexibilisierung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Deutsche Bahn, die heute mehr als 250 unterschiedliche Arbeitszeitmodelle anbietet, weil sie mit dieser Flexibilität die besten Talente anlocken und gleichzeitig dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Die Konditionen werden heute sehr viel mehr von neuen Mitarbeitenden mitbestimmt als das in früheren Zeiten der Fall war.
Wie sehen die Auswirkungen der Transformation auf Arbeitsplätze aus Sicht der Unternehmen aus? Was funktioniert, was funktioniert nicht?
Fangen wir vielleicht damit an, was nicht funktioniert. Wir waren sehr beeindruckt von partizipativen Organisations- und Entscheidungsmodellen, bei denen die Hierarchie keine entscheidende Rolle mehr spielt. Aber wir haben gemerkt, dass dieser Traum, solche Modelle in großer Abdeckung in große traditionelle Organisationen zu bringen, nicht funktioniert. Jetzt pilotieren Organisationen partizipative Modelle in Teilen ihrer Organisation, um damit Erfahrungen zu sammeln und Anschlussfähigkeit in die Bestandsorganisation zu trainieren. So gibt es das Lab auf der grünen Wiese, das die Mutterorganisation von außen inspiriert, oder das Lab, das Teil der Mutterorganisation ist und sie von innen weiterentwickeln soll. Aber ich habe kein Unternehmen in den letzten Jahren erlebt, in dem es gelungen ist, das Organisationsmodell der traditionellen Entscheidungen, der traditionellen Kommunikation, die in der Pyramide stattfindet, zu überwinden. Zumindest nicht bei Unternehmen einer Größenordnung von 10.000 oder mehr Mitarbeitenden. Das Gestaltungsmonopol liegt nach wie vor bei den Menschen in Führungsverantwortung. Diese DNA ist schwer zu verändern.
Die digitalen Möglichkeiten partizipativer Gestaltung – etwa durch entsprechende Vernetzungsplattformen – werden heute noch sehr wenig genutzt. Oft mangelt es an der Digitalkompetenz der Führungskräfte sowie der Mitarbeitenden. Was jedoch gut funktioniert, sind selbstorganisierte „Inseln“. Sie schaffen einen Raum, die kritischen Aspekte der Hierarchie – fehlende Wirksamkeit und Geschwindigkeit – neu zu denken und zu überwinden. Ein schönes Beispiel ist für mich immer die Akademie der Deutschen Bahn, einer Organisation, die bis vor wenigen Jahren dem traditionellen Tarifsystem und damit verbundenen Karrieremodellen des Gesamtkonzerns unterworfen war. Dort gelang es sehr erfolgreich, Führungskräfte auf Zeit zu wählen und partizipative Entscheidungsprozesse einzuführen.
Der wichtige Spagat ist dann die Anschlussfähigkeit an einen nach wie vor traditionelles Berichtswesen der Gesamtorganisation. Die Brücke bildet heute eine Führungskraft, die in beide Richtungen unterschiedlich agiert: In den Konzern hinein traditionell, in die eigene Organisation partizipativ.
Sabine Kluge ist Ökonomin und hat sich auf ganzheitliche Organisations-, Personal- und Strategieentwicklung spezialisiert. Sie arbeitet als systemischer Business Coach und hat mehrere Sachbücher u.a. über Transformation und Change-Management geschrieben. Nach rund 25 Jahren in unterschiedlichen Konzernfunktionen rund um Strategie-, Personal- und Organisationsentwicklung unterstützt sie seit 2017 Unternehmen mit ihrem Netzwerk Kluge-Konsorten GmbH bei der digitalen und kulturellen Transformation. Mit ihren Beiträgen rund um Mensch und Organisation zählt sie zu den führenden Blogger:innen/ HR-Influencer:innen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen.
Wie können Arbeitgebende sicherstellen, dass die Transformation der Arbeit gelingt und Mitarbeitende trotz flexibler Arbeitszeiten und Arbeitsorte produktiv bleiben?
Das ist immer die große Angst, die auch nicht ganz unbegründet ist. Aber es ist möglich, zu tracken, wie produktiv Menschen sind, wenn sie zeitlich und örtlich unabhängig arbeiten. Die überraschende Erkenntnis ist, dass Menschen in so einer Situation deutlich produktiver sind als am Arbeitsplatz im Unternehmen. Jeder, der Teilzeit arbeitet, kann ein Lied davon singen, dass der übliche Job-Zuschnitt keine große Rücksicht darauf nimmt, dass jemand nur in Teilzeit da ist. Und so sind Teilzeit arbeitende Menschen oft in ihrer verkürzten Arbeitszeit proportional produktiver, als sie es qua Arbeitsstunden sein müssten. Für das heute viel diskutierte Homeoffice gilt Ähnliches: Klar schafft Homeoffice Raum für eine Joggingrunde mitten am Tag; aber die Statistik zeigt, dass die Gesamtproduktivität darunter nicht leidet. Ich habe 25 Jahre in einem großen Konzern gearbeitet, allerdings lange aus dem Homeoffice heraus oder ich war auf Dienstreisen. Meine Produktivität in Tagen, die den Kunden berechnet wurden, waren immer mindestens genauso hoch im Vergleich zu anderen oder höher. Denn wenn ich ins Büro gefahren bin, steckte ich von einem Meeting im nächsten fest – und nur in einem Teil der Meetings hatte ich tatsächlich auch eine Rolle. Führungskräften fehlt es bisweilen an der Methodenkompetenz, virtuell zu führen. Die Folge ist die diffuse Angst vor Kontrollverlust. Arbeit auf dem Whiteboard, neue Kommunikationsrituale mit dem Team und in Einzelgesprächen können heute einen Teil der physischen Begegnungen gut ersetzen. Die gemeinsame physische Zeit sollte einer gemeinsamen Quality Time gelten: Dem guten persönlichen Entwicklungsgespräch zum Beispiel. Persönliche Begegnungen sind dafür da, miteinander essen zu gehen und sich gegenseitig zu fragen: Sag mal, wie geht es dir, wie geht es mir, was beschäftigt dich gerade jenseits der Arbeit?
Wie können Unternehmen ihre Professionals dabei unterstützen, die notwendigen Fähigkeiten zu erwerben, um in einer sich schnell verändernden Arbeitswelt erfolgreich zu sein?
Unternehmen sehen sich zunehmend mehr in der Pflicht, Menschen weiterzuentwickeln, als das in den 1980er oder 90er-Jahren der Fall war, als ich in der Industrie angefangen habe. Damals war es noch ein Incentive, etwas lernen zu dürfen. Heute muss es Arbeitgeber:innen gelingen, ihre Mitarbeitenden zum kontinuierlichen Lernen zu motivieren. Dazu gehört, zeitliche Räume hierfür zu schaffen.
Wir beobachten heute, dass die Methodenkompetenz, nämlich der Umgang mit komplexen Fragestellungen und mit komplexen Automatisierungsprozessen in allen Bereichen, eine viel größere Bedeutung bekommt. Wir haben agile Methoden, aber auch ganz traditionelle Methoden. Wir kommen gerade weg von diesem sehr starken, funktionalen Silodenken. Beispiel: „Nur wer SAP kann, kann auch den Job im Controlling machen.“ Das ist falsch. Wenn jemand bestimmte Methoden erlernt hat, dazu gehört auch das Lernen zu lernen und das VERlernen zu lernen, kann er sich relativ schnell in neue, auch Fachthemen einarbeiten.
Wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen Lust dazu haben. Das, was wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, dass wir Menschen in Aufgaben steckten, weil wir restrukturierten, und sie sich dort gar nicht entfalten konnten – das war eher kontraproduktiv. Viele Organisationen beginnen gerade erst, Führung und Zusammenarbeit ganz neu zu denken. Denn das ist die Basis der Transformation!
Sabine, vielen Dank für das Gespräch!