Lebenslang neugierig bleiben: Das können wir von Kreativen lernen
Viele Berufe erfordern lebenslanges Lernen. Neugier ist dafür eine wichtige Voraussetzung, die manchen „Routiniers“ vielleicht abgeht. Daher die Frage an dich, der du viel mit Kreativen gearbeitet hast: Wie wichtig ist Neugier dabei, Neues zu schaffen?
Wenn du kreativ sein willst, musst du dir ständig neues Material verschaffen, dich ausprobieren und mit Möglichkeiten spielen. Neugier hilft dabei sehr, allerdings ist mein Eindruck, dass es nicht zielführend ist, seine ganze Energie in Recherche zu stecken. Unter meinen Studierenden hatte ich Extremfälle, die wollten unbedingt Autoren sein, hatten jahrelang über ein Thema recherchiert, aber keine einzige Seite geschrieben. Sie haben die Recherche als Legitimation für ihre Schreibvermeidung benutzt.
Das kann nicht Sinn der Sache sein. Daher stellt sich die Frage nach einem gesunden Verhältnis zwischen Materialbeschaffung und dem eigentlichen Handeln, nämlich dem Schreiben. Sicherlich ist es gut, sich treiben zu lassen, in Büchern zu blättern, Eindrücke zu suchen, Inspiration, Bilder, Gedanken, Gefühle. Aber Fiktion schreiben ist kein Journalismus oder eine Doktorarbeit, wo du dir systematisches Wissen über deinen Gegenstand aneignen musst.
Wolf Otto Pfeiffer ist Filmproduzent, Regisseur, Drehbuchautor und Drehbuchdozent. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Filmpreise, u.a. eine Oscar-Nominierung für den besten fremdsprachigen Film. Von 1992 bis 1999 lebte er in Simbabwe. Im Auftrag der deutschen Regierung half Wolf mit, die dortige Filmindustrie weiterzuentwickeln und baute u.a. eine Filmakademie auf.
Nach seiner Rückkehr in Deutschland gründete er eine eigene Drehbuchschule und die Drehbuchagentur ArsDramatica. Heute wirkt er als Filmmentor und begleitet Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft dabei, ihre Künstlerpersönlichkeit zu entwickeln. Der 69-Jährige ist Vater von sechs Kindern und lebt mit Frau und dem jüngsten Sohn in Berlin. Sein Hobby war früher Fußballspielen, heute überlässt er das Spielen den Profis und schaut ihnen gern dabei zu.
Du hast dich viel mit Kreativitätstechniken auseinandergesetzt. Was sind denn die besten Methoden, um Neugier und Kreativität zu wecken?
Es gibt viele Techniken, um Kreativität zu beleben, viel Ratgeberliteratur. Jeder muss selbst ausprobieren, was am besten hilft, um Blockaden aufzulösen. Nach meiner Erfahrung ist es gut, „Morgenseiten“ zu schreiben. Bevor du an das eigentliche Schreiben gehst, schreibst du dir erst einmal völlig absichtslos ein paar Seiten von der Seele, am besten mit der Hand. So kannst du alles loswerden, was dich beschäftigt – und was dich vielleicht vom Schreiben abhält. Es kommt auf deine Haltung an oder darauf, deine Haltung gegebenenfalls zu verändern und wegzukommen vom rein analytischen Denken.
Jeder Mensch besitzt die Fähigkeit zur Kreativität. Was uns davon abhält, sind weniger äußere Umstände oder fehlende Veranlagung. Leider versuchen wir oft, übers Nachdenken zu Lösungen zu kommen. Dabei sollten wir uns vielmehr in Angstfreiheit üben und Vertrauen aufbauen, dass wir zu Ergebnissen kommen werden, sobald wir uns auf den kreativen Prozess einlassen. Dass wir kreative Probleme handwerklich lösen können, ist ein Irrglaube. Es geht um die Haltung: Wie stelle ich mich der Herausforderung? Viele kommen zu mir und fragen, was können wir tun, damit wir schreiben können? Es ist weniger eine Frage von Tricks und Kniffen, als davon, das Vermögen zu entwickeln, sich auf den Schreibprozess einzulassen.
Weniger Tricks und Kniffe, mehr Haltung und Verhalten. Wie gehst du in deinen Coachings vor, damit deine Student:innen Neugier und ein kreatives Mindset entwickeln?
Meine Arbeit beruht darauf, dass wir offen und frei miteinander reden. Das geht zum Teil schon in Bereiche, die sogar intime Themen berühren – oder Geheimnisse. Ich versuche, dabei zu helfen, dass sich die Studierenden selbst verstehen. Die Fragen, die sie sich stellen, sind Fragen, die sie auch für sich klären wollen, um kreativ werden zu können. Der Antrieb zum Schreiben ist etwas sehr Persönliches. Auch der Gegenstand, über den wir schreiben wollen, hat sehr viel mit uns selbst zu tun. Daher forciere ich eine gewisse Selbstbefragung. Manchmal muss ich die Leute regelrecht dazu zwingen, sich selbst bestimmte Fragen zu stellen.
Du hast nicht nur in Deutschland mit angehenden Drehbuchautor:innen gearbeitet, sondern ursprünglich in Afrika, in Simbabwe. Hast du kulturelle Unterschiede feststellen können in Hinblick auf Neugier und schöpferisches Denken?
Unterschiede gibt es gewiss, und die sind teilweise sogar ganz elementar. Die Afrikaner haben aufgrund ihrer Kultur und ihrer Sozialisation einen ganz anderen Zugang zur Welt, ein anderes Weltverständnis. Sie haben ein viel höheres Maß an Spiritualität und – damit verbunden – ein höheres Maß an Gottvertrauen, Vertrauen in die geistige Welt. Sie nähern sich ihren Themen von einer gewissen Geisterwelt aus. Das analytische Denken hat nicht diesen hohen Stellenwert wie bei uns. Meine afrikanischen Studierenden waren viel, viel weniger verkopft, viel weniger akademisch verbildet. Die Arbeit mit ihnen war sehr viel einfacher.
Sie waren zugänglicher, haben Dinge einfacher und ohne Widerstände aufgenommen. Diese Menschen hatten keine besondere Schuldbildung, waren vielleicht sechs Jahre zur Grundschule gegangen, konnten schreiben und die Grundrechenarten. Aber was sie wirklich beherrschten, war das Erzählen. Sie hatten keine cineastische Vorbildung, kannten keine Filmgeschichte, keine europäischen und amerikanischen Independent-Filme. Sie kannten nur Hollywood-Mainstream. Darauf beruhte ihre ganze Filmbildung. Doch durch die fehlende Bildung hatten sie keinerlei Defizite, sondern verstanden, worauf es beim Erzählen ankommt. Hier hingegen musst du mit dem Eisbrecher ran, wenn es ums Umsetzen geht. Das ganze Denken ist zubetoniert.
Wie schade, dass es trotzdem so wenig afrikanische Filme nach Europa schaffen…
Was an der fehlenden Masse liegt. Es fehlt am professionellen Umfeld, an der ständigen und konsequenten Auseinandersetzung mit Film. Ich glaube, Simbabwe hat in den letzten 30 Jahren vielleicht fünf oder sechs Filme produziert. Dabei ist das auch ein großes Land mit 15 Millionen Einwohnern. In Deutschland produzieren wir jedes Jahr 200 Kinofilme. Als ich meinen ersten Drehbuchkurs in Simbabwe gab und die ihre ersten Fassungen für einen Langspielfilm fertig hatten, bekam ich Besuch von einem Filmemacher-Pärchen aus Deutschland. Die wollten gern etwas davon lesen.
Ich gab ihnen die Drehbücher mit und dann habe ich sie zwei Tage nicht mehr gesehen. Als sie zurückkamen, meinten sie: Aber das sind keine Anfänger, die das geschrieben haben, oder? Doch! Das waren Anfänger! In jeder Gruppe von 12 Studierenden hatte ich vier oder fünf Bücher, die richtig gut waren, und von denen ich dachte, die müssen nun aber auch produziert werden. Leider ist es dann doch ein großer Schritt – vom fertigen Drehbuch zum Film. Das ist in Deutschland oder in Europa übrigens nicht anders. Und in Afrika ist das um ein Vielfaches schwieriger.
„Ein Buch muss sein wie eine Axt für das gefrorene Eis in uns“, hat Franz Kafka geschrieben. Hast du noch einen Buchtipp für uns, um uns solche Äxte anzueignen? Um neugierig zu bleiben, offen für Neues, kreativ zu werden?
Ich empfehle immer „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron. Dort steckt auch die Idee zu den Morgenseiten drin, die ich bereits erwähnt habe. Das ist ein Klassiker, ein guter Einstieg, um seiner Kreativität näherzukommen und Strategien zu entwickeln, seine Ängste zu verstehen und zu überwinden. Damit wir uns auf unseren Wanderweg begeben, aktiv werden können.
Wolf, vielen Dank für das Gespräch!