Inklusion: Fachkräftemangel hilft Menschen mit Behinderung

Vielen ist gar nicht bewusst, wie schwer es noch bis vor kurzem war, als Mensch mit einer Behinderung einen Job zu bekommen – trotz oftmals sehr guter Qualifikation. Unternehmen wissen um die Bedeutung von Inklusion und Diversity, schrecken aber oft vor der Einstellung zurück, etwa weil sie einen höheren Krankenstand befürchten. Hinzu kommt eine psychologische Barriere: Wenn wir Menschen mit Behinderung sehen, holt das eigene Ängste hervor, denn wir ahnen, es kann auch uns jederzeit treffen – was sicherlich auch Auswirkungen auf unser Berufsleben hätte. Dabei zeigt die Erfahrung, dass Menschen mit Behinderung eine große Bereicherung im Arbeitsleben sind. Sie sind sehr loyal und kreativ, haben gelernt, außerhalb von Schubladen zu denken. Was Unternehmen gewinnen, wenn sie diesen Menschen eine Chance geben, weiß Karen Schallert von HandicapUnlimited. Sie ist Coach und Keynote-Speakerin der COPETRI CONVENTION 2023.

Karen Schallert Inklusion Behinderung|Karen Schallert Diversity Behinderung

Karen, du beschäftigst dich mit Inklusion in Bezug auf Behinderung. Es ist zwar offensichtlich, aber ich frage trotzdem: Wie bist du auf die Idee gekommen, HandicapUnlimited zu gründen?

Eigentlich wollte ich mit dem Thema Behinderung gar nichts zu tun haben. Ich war jahrelang als Personalleiterin im internationalen Anlagenbau beschäftigt. Seit meiner Multiple-Sklerose-Diagnose im Jahr 2000 sitze ich – am Anfang teilweise und später dann ganz – im Rollstuhl. Trotzdem war das Thema Behinderung für mich weit weg. Als ich mein Angestelltenverhältnis aufgeben musste, überlegte ich, was ich nun machen könnte. Mit Anfang 50 fühlte ich mich zu jung für die Rente. Dann hatte jemand die Idee, ich könnte mich um Menschen mit Behinderung kümmern, die Führungskraft werden wollen. Ich hatte zunächst Zweifel, ob das wirklich meine Zielgruppe ist und mich begeistern würde. Mir ist aufgefallen, dass ich wenig Leute mit Behinderung kenne. Ich habe mich dann zunächst ehrenamtlich engagiert und zwei junge Akademikerinnen auf dem Weg in die Arbeitswelt unterstützt. Das hat etwas bei mir verändert.

Was hat sich genau verändert?

Ich wollte nie zu dieser Gruppe gehören, obwohl ich auch eine Behinderung habe, weil mir das immer so negativ vorkam. Doch dann fand ich heraus, dass das sehr interessante Menschen sind, die viele Krisen gemeistert haben, sehr loyal gegenüber ihren Arbeitgebern, oft gut ausgebildet und lösungsorientiert sind.

Menschen mit Behinderung sind die besseren Krisenmanager?

Diese Kompetenz trainieren wir jeden Tag. Wenn jemand eine Behinderung hat und nicht gehen kann, so wie ich, muss er oder sie viel öfter nach Lösungen suchen, die nicht auf der Hand liegen – und kreativ sein.

Karen Schallert ist Coach, Mentorin und Keynote-Speakerin zum Thema Inklusion und Diversity in Bezug auf Behinderung. Sie hat Amerikanistik, Neuere Englische Literatur und Erziehungswissenschaften in Tübingen und Portland/USA studiert. Anschließend absolvierte sie eine Ausbildung zur Personalkauffrau und arbeitete zuletzt als Head of Human Resources, bevor sie sich mit ihrer eigenen Beratungsfirma selbständig machte. Die 55-Jährige lebt in Bonn. Ihre Hobbys sind ihre Katze, Hörbücher, Lesen und Reisen. Zudem interessiert sie sich für Traditionelle Chinesische Medizin und Ernährung.

Du bist eigentlich studierte Amerikanistin. Wie kam es, dass du nach dem Studium eine Ausbildung zur Personalkauffrau draufgesattelt hast? Hatte das bereits mit deiner Diagnose zu tun?

Dass ich Personalerin wurde, hat nichts mit meiner Behinderung zu tun. Die Diagnose habe ich erst später bekommen. Mein erster Mann war Personalleiter. So habe ich den Bereich aus der Nähe kennengelernt. Mich hat fasziniert, wie gut man mit Menschen arbeiten kann, ja, dass man sie wirklich fördern und für eine gute Arbeitsumgebung sorgen kann. Wo Menschen gut performen können, gehen sie gern zur Arbeit.

Nun kümmerst du dich um HandicapUnlimited. Wer sind denn deine Klienten und wobei hilfst du ihnen? Seht ihr euch hauptsächlich in Video-Calls?

Es läuft eigentlich alles online, denn wir sind über ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz verteilt. Ich berate vor allem junge Frauen mit Behinderung, die bereits im Arbeitsleben angekommen sind. Oft denken sie darüber nach, ob sie den nächsten Karriereschritt wagen sollen. Im Kopf wird das oft ausgeschlossen. Ich berate inzwischen auch Unternehmen, beispielsweise wie man Menschen mit Behinderungen rekrutiert. Ich mache auch Workshops gemeinsam mit einer Kollegin.

Wenn jemand Fragen zum Thema Inklusion in Bezug auf Behinderung hat: Wie erfahren sie, dass es dich gibt?

Der Bereich ist extrem klein – und wenn man in den Organisationen erst einmal Fuß gefasst hat, kennt man sich einfach. Am Anfang habe ich ehrenamtlich Vorträge gehalten und gecoacht. Bald lief das von allein. Seit zwei Jahren denke ich, ich müsste eigentlich Werbung machen, aber dann kommt schon wieder der nächste Anruf. Das hat sich so verselbständigt.

Wie hast du denn über Menschen mit Behinderung gedacht, als du noch Personalerin warst?

Das ist das Interessante: Ich bin die einzige Ex-Personalleiterin mit einer Behinderung. Ich sage immer, ich hätte mich mit meiner Prognose damals nicht eingestellt. Ich kenne die ganze Problematik, dass man als Personalerin keine Lust auf das Thema hat. Daher helfe ich Menschen dabei, diesen Perspektivwechsel zu schaffen.

Wie ist denn die derzeitige Situation in Unternehmen für Menschen mit Behinderung?

Kürzlich hat einmal jemand zu mir gesagt: Bei dem Thema fehlt der „Glitzer“. Das ist eine wirklich gute Aussage. Wir haben hier eine Gruppe von Menschen, die etwas in uns auslöst. Wenn jemand einen Migrationshintergrund hat, dann mag das Neugier auslösen, aber wir werden nie zu dieser Gruppe gehören, wenn wir keine Wurzeln in einem anderen Land haben. Beim Thema Behinderung ist das anders. Wenn wir Menschen mit Behinderung sehen, holt das eigene Ängste hoch: „Hoffentlich trifft mich das nie, hoffentlich muss ich nie so leben. Dann wäre mein Leben vorbei. Dann kann ich nicht mehr arbeiten.“ Das fühlt sich nicht gut an – und das ist das Hauptproblem. Der Mensch ist in diesem Fall auf Flucht ausgelegt. In Unternehmen herrschen oft viele Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. Sie seien nicht belastbar, nicht kündbar, bedeuteten wahrscheinlich Stress für die Kollegen, weil sie unterstützt werden müssten. Daher möchten viele so jemanden nicht gern im Team haben.

Aber wenn es die Menschen erstmal ins Team geschafft haben, dann sollten sich doch die Vorteile abbauen lassen, oder?

Es kommt immer darauf an, wer einem gegenübersitzt. Manche sind sympathisch, manche sind es nicht. Manche sind stressig, manche sind es nicht. Das hängt gar nicht so unbedingt von der Behinderung ab. Als ich meine Diagnose kommuniziert habe, wurde ich auf einmal ganz anders behandelt. Zwei Wochen lang kamen Kolleginnen zu mir und fragten: „Kann ich Ihnen einen Stuhl holen?“ Oder wenn es 17 Uhr war, fragten sie: „Sie gehen doch sicher bald nach Hause?“ Ich dachte damals: Vor zwei Stunden war ich noch normal – und jetzt werde ich mit Samthandschuhen angefasst. Doch nach zwei Wochen hatten sich alle daran gewöhnt, und es war gut.

Was sind denn die Herausforderungen für Unternehmen, wenn es um Diversity in Bezug auf Behinderung geht?

Die einen haben sich auf die Fahne geschrieben, Menschen mit Behinderungen einstellen zu wollen. Die anderen tun es schon seit Jahren und haben eher das Bedürfnis, ihre Quote an behinderten Mitarbeitenden erhöhen zu wollen – und finden keine entsprechenden Bewerber:innen auf dem Arbeitsmarkt. Ich kann das also nicht generalisieren. Ich habe das Gefühl, dass der Fachkräftemangel sich auf diese Zielgruppe extrem positiv auswirkt. Die Motivation, diese Menschen überhaupt in Betracht zu ziehen, war vor drei Jahren noch nicht so stark.

Was sind denn die besten Praktiken für Inklusion in Unternehmen?

Um Inklusion voranzutreiben, sollten Unternehmen ins Gespräch gehen. Alles geht nur über den Dialog, die Diskussion, was können wir für Menschen mit Behinderung machen? Sonst wird etwas umgesetzt und am Ende wird es vielleicht gar nicht gebraucht. Beispielsweise kann es sein, dass das Unternehmen keine Rollstuhlfahrer einstellen können, weil das Gebäude nicht barrierefrei ist. Sehbeeinträchtigte brauchen andere Maßnahmen als Hörbeeinträchtigte. Unternehmen müssen immer schauen, was benötigen wir für unsere Zielgruppe, welche Bedürfnisse sind da? Es ist ein Thema, das von der Geschäftsführung wirklich gewollt sein muss. Es nützt also nichts, wenn ich als Einzelkämpferin Menschen mit Behinderung einstellen möchte, aber dafür keine Rückendeckung durch die Geschäftsführung habe.

Sollten Unternehmen zu Inklusion gesetzlich verpflichtet werden?

Das ist eine unheimlich schwere Frage. Mich tröstet manchmal, dass die Ausgleichsabgabe für Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen, die unter 5% Menschen mit Behinderung beschäftigen, dazu verwendet wird, genau diese Gruppe zu unterstützen – etwa damit sie zur Arbeit kommen können oder damit Gebäude behindertengerecht umgebaut werden. Gleichzeitig finde ich es schade, dass es so etwas wie eine Ausgleichsabgabe geben muss. Wobei sie definitiv viel zu niedrig ist. Die können Unternehmen fast aus der Portokasse zahlen. Es nützt eigentlich nichts, wenn sich Unternehmen freikaufen können und das noch nicht einmal richtig weh tut. In meinen Augen sollte die Ausgleichsabgabe deutlich höher ausfallen – oder ganz abgeschafft werden.

Wie können Unternehmen sicherstellen, dass sie ihre Verpflichtungen in Hinblick auf Inklusion erfüllen?

Es gibt diesen schönen Satz in Stellenausschreibungen, dass Menschen mit Schwerbehinderung bevorzugt werden – daran glaubt heute keiner mehr. Wenn ich auf der Website des Unternehmens nichts zum Stichwort Behinderung finde, dann ist diese Bevorzugung sicherlich nicht ernst gemeint.

Ich finde, es ist eine gute Idee, potenzielle Mitarbeiter:innen für ein Praktikum oder in einem Probearbeitsverhältnis ins Unternehmen zu holen. Damit sich die Belegschaft an Menschen mit Behinderung gewöhnen kann. Auch um zu schauen, ob die jeweilige Person reinpassen würde. Wenn es nicht funktioniert, kann dieses Probearbeitsverhältnis wieder aufgelöst werden und es sind keine Kosten entstanden. So können Anreize geschaffen werden, denn wenn die Menschen mit Behinderung erstmal im Unternehmen sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es passt und dass sie bleiben können.

Karen, vielen Dank für das Gespräch!

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