Employee Experience: So kann Ambidextrie gelingen

Im Arbeitsleben kommen immer wieder neue Trend-Wörter auf und wir wissen erst einmal gar nicht, was sie bedeuten. Ambidextrie ist kein neuer Begriff in der Wirtschaft.

Marc Wagner
Employee Experience: So kann Ambidextrie gelingen

Herkunft Ambidextrie

Erstmals verwendete ihn Organisationsdesigner Robert B. Duncan im Jahr 1976! Wie wichtig es wird, merken viele Unternehmen erst, wenn sie sich zu sehr auf ihr aktuelles Tagesgeschäft verlassen haben – und sich plötzlich von der Konkurrenz abgehängt sehen. Denn wer sich und seine Produkte nicht ständig hinterfragt und innovative Strömungen ignoriert, manövriert sich ins Aus. Prominente Beispiele von Unternehmen, die einst Marktführer waren, aber dann plötzlich verschwanden, gibt es einige. Weniger Hybris, mehr Ambidextrie = mehr Zukunft. Auf diese simple Gleichung fußt wohl die unbequeme Wahrheit.

Was bedeutet Ambidextrie?

Ambidextrie bedeutet Beidhändigkeit. Ich kann mit der linken Hand genauso gut den Ball in einen Basketballkorb werfen, wie mit der rechten Hand. Auf die Wirtschaft bezogen heißt das: Erfolgreiche Unternehmen müssen das Bestehende immer effizienter gestalten (exploit) – und gleichzeitig in der Lage sein, radikal Neues hervorzubringen (explore). Das ist eine Riesen-Leadership-Aufgabe und bedarf einer bestimmten Führungspersönlichkeit, denn sie müssen beide Ebenen möglichst gleichwertig behandeln. Letztlich finanziert ja das Bestehende „das Neue“, was wiederum Grundlage für die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens ist. Wie kann ich als Unternehmer das Bestehende verbessern, aber gleichzeitig Strukturen schaffen, die mein bestehendes Business Modell maximal herausfordern? Die Widersprüche und Konflikte, die dabei entstehen, muss ich nicht nur moderieren und aushalten können, sondern im Zweifelsfalls sogar aktiv fördern.

Wozu brauchen Unternehmen Ambidextrie überhaupt?

Im digitalen Zeitalter müssen Unternehmen zwei Themen im Blick haben: Zum einen AGILITÄT – das Unternehmen muss maximal schnell auf Veränderungen reagieren und mit allem, was es tut, maximalen Kundenwert erzeugen. Denn sie können sich Verschwendung nicht mehr leisten. Das zweite Thema ist Ambidextrie, bestehendes laufend optimieren und zukünftig durch Innovationen ersetzen können. Unternehmer:innen neigen dazu, sich zu sehr auf das Bestehende zu verlassen.

Sie tun sich schwer damit, radikal neu zu denken und zu handeln. Viele dieser Firmen verschwinden dann vom Markt, wenn sie Innovationen in ihrem Bereich nicht ernst nehmen und adaptieren bzw. Technologiesprünge verpassen. Das ist dieser typische Kodak- oder Nokia-Effekt, den nicht zuletzt Clayton Christensen in seinem Buch „The Innovators Dilemma“ beschrieben hat. Die Hybris des Erfolges etablierter Unternehmen, die letztlich dazu führen, dass diese durch neue und innovativere Player vom Markt verdrängt werden.

Marc Wagner ist Experte für Employee Experience, New Work und Agile Organisationen. Nach seiner Überzeugung machen Menschen – und nicht Technologie – den Erfolg von Unternehmen im digitalen Zeitalter aus. Er hat etliche Preise und Auszeichnungen gewonnen. Allein das „Personalmagazin“ kürte ihn dreimal zum Top 10 HR Influencer. Auf LinkedIn folgen ihm mehr als 24.000 Leute. Marc ist Co-Autor des Sachbuchs „New Work: Auf dem Weg zur neuen Arbeitswelt“ (Springer Gabler) sowie Herausgeber verschiedener Studien und Publikationen. Der 47-Jährige lebt mit Frau und zwei Kindern in Wachtberg bei Bonn. Seine Freizeit verbringt er mit seiner Familie und erfreut sich dabei insbesondere am Klavierspiel seiner Kinder.

Employee Experience und Ambidextrie von Marc Wagner erklärt
Employee Experience: So kann Ambidextrie gelingen

Ist diese Beidhändigkeit für deutsche Unternehmen ein No-Brainer?

Nein, im Gegenteil, sie fällt nach meiner Beobachtung gerade vielen deutschen Unternehmen unheimlich schwer. So haben mein damaliges Team und ich 2017 eine Studie zum Thema Innovationskultur aufgesetzt. Der Titel war dabei das Zitat eines unserer Interviewpartner, Thomas Sattelberg: „Wir Deutschen können zwar effizient, aber nicht innovativ“. Eine wesentliche Erkenntnis der Studie war schon damals, dass Ambidextrie Teil der Unternehmenskultur werden und sich fest im Mindset von Leadern verankern muss. Viele sind von Effizienz-getrieben, auf das Operationale fokussiert, auf Zahlen und Kurzfristigkeit.

Sie sind weniger gewillt, visionär-innovative Risiken einzugehen. Das bedroht vielfach die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. Innovativ zu sein, hat aber natürlich auch Tücken. Es ist oft wie eine Wette auf die Zukunft. Ich investiere, weiß aber nicht, was dabei herauskommt. Wir können es am Startup-Umfeld sehen: 95 Prozent aller Start-ups scheitern innerhalb kürzester Zeit. Vielleicht sogar noch mehr. Es ist wichtig, das gut auszubalancieren. Risiken eingehen – ja, aber in der richtigen Dosis.

Dabei haben aus meiner Betrachtung im Übrigen etablierte Unternehmen einen signifikanten Vorteil gegenüber neuen Playern und Start-ups. Sie verfügen über Erfahrungswissen und Marktzugänge, die die Wette auf die Zukunft kalkulierbarer gestalten. Letztlich etwas, das sich in dem von mir mitentwickelten CompanyReBuilding Ansatz widerspiegelt. Doch dies in einem anderen Interview…

Das klingt so, als hätten es alteingesessene Firmen leichter, diese Ambidextrie hinzubekommen, weil sie über mehr Mittel, Strukturen und Ressourcen verfügen, vielleicht leichter zwei verschiedene Teams bilden können: Ihr seid fürs Tagesgeschäft – und ihr seid für die Innovationen zuständig.

Das ist das Ding. Die Führungskraft muss beide Bereiche unabhängig voneinander denken, muss aber letztlich im Blick behalten, dass die Innovationen irgendwann in die Umsetzung gehen und Erträge bringen sollen. Oft konnten wir beobachten, dass ein Unternehmen gut funktioniert und sich dann denkt: „Hey, wir müssen mal innovativ werden… aber irgendwie nervt das Thema auch.

Also schaffen wir ein Innovationslabor, einen Monolith, der außerhalb des Unternehmens experimentiert und sich tolle Sachen ausdenkt, ohne den Rest zu stören.“ – Überspitzt formuliert: Die Mitarbeitenden im Tagesgeschäft schauen dann oft mit Neid und Argwohn auf die vermeintlich hoch bezahlten, in Berlin, Israel oder im Silikon Valley sitzenden, Latte Macchiato trinkenden Visionäre und Innovatoren. Die Angestammten denken oft: „Ihr gebt unser Geld aus, bekommt aber nichts auf die Kette.“

Wenn die Kollegen im Labor es dann aber doch schaffen, eine innovative Idee zu entwickeln und zur Umsetzung auszureifen, nimmt das der Rest der Organisation oft nicht ernst. Das ist wie ein Immunsystem, das alles abstößt, was neu ist und sich anders anfühlt. Aber trotz ihrer Skepsis müssen diese „Bestands-Mitarbeiter“ dann die Innovation umsetzen.

Häufig wird dieser insbesondere kulturelle Effekt unterschätzt und es herrscht Verwunderung darüber, dass Innovationen es nicht bis zur Umsetzung schaffen. Auch hier gilt es eine balancierte und vornehmlich umsetzungsorientierte Sicht auf Innovationen zu realisieren und im Leadership-Verständnis zu verankern.

Liegt die Macht demnach eher in der Umsetzung, als in der Idee?

Es gibt diesen schönen Spruch: Ideas are cheap, implemention matters. Eine tolle Idee hatten wir alle schon einmal, haben über Sachen nachgedacht und fünf Jahre später haben es andere umgesetzt. Dann haben wir uns gesagt: „Mensch, auf die Idee bin ich doch auch schon gekommen.“ Aber darum geht es nicht. Es geht am Ende des Tages natürlich auch um die innovative Idee. Den wirklichen Unterschied macht dann aber die konsequente Umsetzung und die Wirksamkeit in Richtung Kunde.

Es ich wichtig, dass ich als Unternehmen diese Exekutions-Fähigkeit bereits in den Explore-Part miteinbringe. Auch das ist nicht einfach. Ich glaube, wir brauchen das Beste aus beiden Welten, von den Start-ups und von den alteingesessenen Unternehmen. Wir brauchen Leadership-Teams, die das gut verinnerlicht haben. Sie müssen sowohl das Tagesgeschäft und die effiziente Gestaltung des aktuellen Business als auch Innovationen und einen langfristigen Blick in die Zukunft gleichwertig betrachten.

Das ist im Übrigen auch ein Grund dafür, dass ich ein großer Fan von genossenschaftlichen Strukturen, wie die der Atruvia, bin. Denn hier ist eine langfristige und nachhaltige Perspektive auf das Geschäftsmodell Teil der DNA – und nicht die Erfüllung kurzfristiger Quartalsergebnisse.

Wie sieht es mit Leadership zu Employee Experience aus? Wie können Unternehmen ihre Mitarbeitenden dafür begeistern?

Das ist wirklich so. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal vor vielen Jahren als Inhouse Consultant bei der Telekom auf das Wort gestoßen bin. Ich konnte es erst kaum aussprechen. Inzwischen bekomme ich das ganz gut hin. (lacht) Um Mitarbeitende auf die Reise mitnehmen zu können, braucht eine Firma eine entsprechende Unternehmenskultur. Führungskräfte müssen erklären können, warum sie beides brauchen – aktuelles Geschäft UND Investitionen in Innovationen und in die Zukunft.

Oft kommt es zu einer unterschiedlichen Wertung der beiden Bereiche, was nicht gut ist. Die einen sind die „New Kids on the Block“, die Coolen. Der Rest soll in den Kohlenkeller gehen und Geld ran schaufeln. Sehr überspitzt gesagt. Gutes Leadership muss beides gleichwertig behandeln und wertschätzen – und das auch nach innen und nach außen tragen. Denn ich muss als Unternehmen beide Arten von Menschen anziehen. Zum einen brauche ich die Leute, die gestalten und mein Unternehmen noch erfolgreicher machen, Abläufe und die aktuelle Wertschöpfung effizienter gestalten.

Aber ich muss auch für jene attraktiv sein, die sagen: „Ich denke jetzt mal viel weiter in die Zukunft, ganz spielerisch und ohne Druck, meine Ideen morgen gleich umsetzen zu müssen.“ Beides muss ein Unternehmen organisatorisch und insbesondere auch kulturell unter einem Dach vereinen und es schaffen, dass sich Menschen mit diesen unterschiedlichen Mindsets auch gegenseitig wertschätzen.

Marc, vielen Dank für das Gespräch!

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