Ambidextrie: Resonanz und Reflexion sind das A und O

Wer ein gutgehendes Unternehmen hat, ist naturgemäß in Versuchung, alles so zu belassen, wie es ist. Alte Business-Aphorismen wie „Never change a winning team“ mögen diese Mentalität noch bestärken. Doch hier kommt die Ambidextrie ins Spiel. Der Wille und die Notwendigkeit, sich nie auf seinen Lorbeeren auszuruhen, sondern immer zu überlegen: Was sind die Bedürfnisse meiner Kundschaft von morgen? – Dieses Mindset sichert die Zukunftsfähigkeit ganzer Industriezweige, aber auch des Mittelstands. Wie Ambidextrie gelingen kann und dass brillante Ideen manchmal von unerwarteter Seite kommen, weiß Change-Experte Michael Groß.

Michael, was sind die größten Herausforderungen, denen traditionelle Unternehmen bei der Transformation ihrer Geschäftsmodelle gegenüberstehen?

Es gibt immer Gründe, etwas nicht zu tun. Das kennt jeder aus eigener Erfahrung. Dieses „Ja, aber das kann nicht funktionieren, weil…“, das uns bei vielem im Kopf herumschwirrt, sollten wir ersetzen durch ein „Ja, und was kann ich tun, was ist der nächste Schritt für unsere Entwicklung?“. Mit dieser Haltung fängt es an. Wer will, findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe.

Ich habe zwei Masterarbeiten begleitet, die beobachtet haben, dass zwei Faktoren eine ganz große Rolle spielen, damit das Alte sich mit dem Neuen versteht. Zum einen müssen wir Resonanzmöglichkeiten schaffen. Diejenigen, die Neues entwickeln, sollten das nicht komplett allein tun, sondern Resonanz aus der „alten Welt“ bekommen – und umgekehrt. Denn die können voneinander profitieren.

Das andere wichtige Thema ist Reflexion. Auch die Bestandsorganisation sollte reflektieren, was die Projekte, die Zukunft gestalten sollen, machen und welche Erfahrungen sie sammeln. Und erneut sollten die Zukunftsprojekte die Erfahrungen mit den „alten“ Geschäftsmodellen und -prozessen prüfen. Dieses Wechselspiel kostet Zeit und wird häufig unterschätzt. Der Prozess dauert mittelfristig zwei bis drei Jahre und erfordert von den Führungskräften viel Durchhaltevermögen.

Prof. Dr. Michael Groß ist Unternehmensberater, Keynote-Speaker, Buchautor und Professor im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. Seine Themen sind u.a. Change-Management, Mitarbeitermotivation und Digital Leadership. In seiner Jugend war Michael ein äußerst erfolgreicher Schwimm-Profi, errang mehrere Gold-Medaillen für Deutschland bei Olympischen Spielen und stellte zahlreiche Weltrekorde auf. Der 58-Jährige lebt mit seiner Frau in Königstein und hat zwei erwachsene Kinder. Seine Hobbys sind Surfen und Snowboarden.

Wie kann ein Unternehmen seine Herkunft nutzen, um sich erfolgreich zu transformieren?

Es gibt viele Anknüpfungspunkte aus der Herkunft. Klassischer Ansatz ist das Thema Qualität – das bedeutet, dass das, was wir machen, funktioniert. Das kann aber auch als Hindernis dienen. Es gibt diesen Begriff des „Minimal Viable Product“, das minimal funktionstüchtige Produkt im digitalen Zeitalter. Wir testen etwas und lassen dann die Nutzer Feedback geben. Über diese Feedbacks entwickeln wir uns weiter. Die Qualität stimmt also nicht von Anfang an zu hundert Prozent. Die Herstellung dieser hundertprozentigen Qualität und Funktionstüchtigkeit hat heute durch die Digitalisierung viel mehr Möglichkeiten, zum Beispiel Daten zu bewerten und so die Herstellung von Qualität, die die Kunden wertschätzen, zu beschleunigen. So kann eine Brücke von der Herkunft in die Zukunft gebaut werden.

Wie können es Führungskräfte schaffen, die richtigen Schritte in Richtung Ambidextrie zu unternehmen?

Dieses Thema Resonanzraum spielt eine ganz wichtige Rolle, um die Spannungen und Widersprüche der Transformation zu betrachten. Darauf müssen sich auch die Führungskräfte einlassen. Die Ergebnisse können sehr positiv überraschend sein. Ich gebe ein Beispiel: Wir haben einen klassischen Maschinenbauer bei diesem Prozess betreut. Dort haben wir eine Zukunftswerkstatt aufgebaut. Allein mit dem Begriff „Werkstatt“ hat das Unternehmen an die Tradition des Machens angeknüpft. Diese Werkstatt wurde zur Plattform, um die digitale Welt mit den dortigen Prozessen und Methoden in das Unternehmen einzubringen. Führungskräfte konnten sich mit den neuen Entscheidungsprozessen vertraut machen: So erstelle ich ein Budget oder so führe ich verschiedene Teams zusammen. Zur größten Überraschung wurde ein Monteur, der draußen bei den Kunden arbeitet und die Maschinen wartet – und dadurch viel Knowhow hatte, was das Unternehmen an neuen digitalen Services anbieten könnte. Eine Führungskraft muss zulassen, dass nicht nur die, die funktional in einer Abteilung sitzen und Verantwortung tragen, Ideen haben, sondern letztlich jeder Mensch im Unternehmen.

Ein Beispiel aus der Produktion hast du genannt. Wie sieht es im Dienstleistungsbereich aus? Wie können sich Dienstleister durch Ambidextrie erfolgreich transformieren?

Eine hochwertige Dienstleistung wäre zum Beispiel eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die auch durch die Digitalisierung massiv beeinflusst wird, weil Prüfungsprozesse, die früher Menschen gemacht haben, heute Programme verrichten können. Das führt dazu, dass sich die Wirtschaftsprüfer auch sehr stark verändern müssen. Sie sollten bereit sein, ihr Bestandsgeschäft teilweise zu kannibalisieren. Im Grunde schafft die Digitalisierung ihr Standardgeschäft ab. Aber gleichzeitig führt sie dazu, dass jene, die in diesem Prozess am schnellsten unterwegs sind, neue Serviceangebote für die Kunden schaffen können – mit dem erweiterten Wissen über diese digitalen Anwendungen. Sie können ganz andere Dienstleistungen anbieten, die es zuvor nicht gab. Auch hier sind wieder die Führungskräfte gefordert, als Vorbild zu dienen und zuzulassen, das Bestehende, das sie bislang gut versorgt hat, in Frage zu stellen und die Tür in die Zukunft zu öffnen.

Was ist der wichtigste Faktor für den Erfolg einer Transformation durch Ambidextrie?

Das Wichtigste ist, es konsequent zu machen, sich nicht entmutigen zu lassen und offen für fortlaufende Anpassungen zu bleiben. Ein Unternehmen, das mit Ambidextrie anfängt, kommt anders heraus als ursprünglich geplant. Um das Ziel eines solchen Transformationsprozesses zu erreichen, wird nach ein oder zwei Jahren die Art der Beidhändigkeit anders sein, als zu Beginn gedacht. Dazu ist wichtig, permanent zu reflektieren, wo stehen wir, und permanent zu justieren. Das ist Teil des Prozesses.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist, sich Zeit zu nehmen. Klassisch ist, dass ein Unternehmen sagt: Hiermit verdienen wir unser Geld und das ist die Grundvoraussetzung, damit wir das Neue wagen können. Je besser wir das Tagesgeschäft managen, desto größer sind unsere Gestaltungsmöglichkeiten in Hinblick auf die Zukunft.

Auch Offenheit und Partnering sind wichtig – was können wir selbst machen und wofür holen wir uns Hilfe von außen? Gerade am Anfang eines solchen Prozesses kann es sinnvoll sein, sich extern Hilfe zu holen, sich nach allen Seiten umzusehen, was um einen herum geschieht. Interessante Kooperationen mit Wettbewerbern oder auch Lieferanten sind insbesondere bei vielen traditionellen Unternehmen denkbar.

Stichwort: Daten sammeln. Große Maschinenbauer sollten sich nicht von großen Tech-Konzernen die Butter vom Brot nehmen lassen. Letztlich haben die großen, deutschen Unternehmen auch viele Daten, die sie aber noch nicht richtig verwenden. Daher kann es gut sein, sich zu verbünden und nicht immer zu versuchen, alles allein zu erreichen.

Du hast es gerade angesprochen: Veränderungen gehen immer mit Herausforderungen einher. Wie können Führungskräfte ihre Mitarbeiter:innen für Ambidextrie begeistern?

Im Change-Management, worum ich mich seit 30 Jahren kümmere, gibt es eine Formel, die heißt 10 – 80 – 10. Das ist die klassische Gaußsche Normalverteilung. Zehn Prozent in einer Belegschaft sind die Early Adopters, die sofort irgendetwas aufnehmen und vorangehen. Dann gibt es die breite Masse, die nicht die ersten sind, sich aber auch irgendwann gerne bewegen und sich von den Vorreitern beeinflussen lassen. Dann haben wir die letzten zehn Prozent. Die nenne ich die notorischen Querulanten, die immer ein Haar in der Suppe finden. Daher ist es wichtig, die ersten zehn Prozent wirklich zu aktivieren – in der Fachsprache nennen wir sie die „Change Champions“ – und dann die achtzig Prozent, die breite Masse. So können wir auf Dauer auch die letzten zehn Prozent mobilisieren, die immer wieder Probleme sehen. Sicherlich sollte man ihre Bedenken aufnehmen, aber sie nicht zum Maßstab machen. Als Führungskraft darf ich nicht darauf hoffen, dass alle nach wenigen Wochen oder Monaten sagen: Darauf haben wir alle gewartet, komplett zu neuen Ufern aufzubrechen. Das wird so nicht sein. Es ist zunächst wichtig, kleine Pflänzchen wachsen und gedeihen zu lassen. Am Ende folgen dann auch die Skeptiker.

Michael, vielen Dank für das Gespräch!

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